Enkeltrick
Tod bei Rot
Morgens um 11.49 Uhr (#) klingelt das Telefon bei Erwin H. Der knapp über 80 Jahre alte Mann lebt allein in einer kleinen Stadt in Bayern. Er nimmt ab, obwohl das Display seines Telefons keine Telefonnummer anzeigt: Der Anruf ist also anonym.
Der perfekt Deutsch sprechende Anrufer stellt sich als Polizeibeamter von der Polizeiinspektion einer rund 30 Auto-Minuten entfernten Großstadt vor. Er behauptet, dass die Enkelin des Angerufenen, die tatsächlich mit ihren Eltern in dieser Großstadt lebt, den Tod eines Menschen verursacht habe. Das junge Mädchen sei bei Rot über die Ampel gegangen, ein Autofahrer wollte ihr ausweichen und überfuhr dabei einen anderen Menschen. Die Enkelin sei jetzt bei der Polizei und müsse in Haft, wenn nicht sofort eine Kaution bezahlt werden würde.
Der angerufene Großvater ist geschockt. Er fragt, wie es seiner Enkelin gehe. Der angebliche Polizist sagt, dass er mit seiner Enkelin sprechen könne und reichte das Telefon an die angebliche Enkelin weiter.
Tatsächlich spricht eine Frauenstimme in das Telefon. Die Frau fleht in korrektem Deutsch ihren Großvater an, ihr zu helfen. Ihr Vater habe zwar bereits mit ihr gesprochen, doch er könne die Kaution nicht bezahlen.
Deshalb habe sie die Polizisten gebeten, ihren Großvater anzurufen.
Der völlig erschütterte Großvater glaubt tatsächlich die Stimme seiner weinenden Enkelin erkennen zu können. Diese gibt darauf das Telefon an den angeblichen Polizisten zurück. Das Problem dabei ist aber: Der Großvater ist schwerhörig und dürfte überhaupt nicht dazu in der Lage sein, am Telefon die Stimme seiner Enkelin identifizieren zu können.
Der Name des Opfers wurde von der Redaktion geändert. PC-WELT führte ein langes Interview mit Erwin H. und sprach zudem mit dem ermittelnden Beamten der Kriminalpolizei.
Erwin H. machte auf uns einen geistig top fiten Eindruck. Er kann offensichtlich problemlos sein Leben allein organisieren. Auf unsere Frage, wie er auf so eine unglaubwürdige Räuberpistole hereinfallen konnte, antwortete er, dass der Anrufer einen so großen Druck auf ihn ausgeübt
habe und er so sehr in Sorge um seine Enkelin war, dass er einfach völlig den Überblick verloren habe. Im Nachhinein sei ihm völlig klar, wie viele unglaubwürdige Details es bei dem ganzen Ablauf gebe. Doch während des Anrufs habe er nicht mehr klar denken können.
Der angebliche Polizist sagt nun, dass der Großvater die Kaution sofort bezahlen müsse, wenn seine Enkelin nicht ins Gefängnis soll. Ob er denn
35.000 Euro für die Kaution zu Hause haben würde. Der völlig überforderte Großvater verneint, er habe kein Bargeld zu Hause. Der angebliche Polizist bietet nun an, dass er auch Sachleistungen wie Schmuck, Uhren oder Münzen als Ersatz akzeptieren würde. Ob er denn solche Wertsachen bei sich zu Hause haben würde, vielleicht versteckt auf dem Dachboden oder im Keller? Der Großvater überlegt verzweifelt und da fallen ihm der Schmuck und die Uhren seiner verstorbenen Ehefrau ein. Diese bietet er dem angeblichen Polizisten an.
Nur Gold, kein Silber – und bitte wiegen
Der Gangster fragt jetzt aber gezielt nach Gold, Silberschmuck oder ähnliches interessiert ihn nicht. Er leitet den Großvater am Telefon tatsächlich dazu an, den Schmuck zu sortieren und die (angeblichen) Goldteile mit einer Küchenwaage zu wiegen. Denn anhand des Gesamtgewichts des Goldes könne der angebliche Beamte feststellen, ob die Kautionssumme erreicht sei. Also schleppt der alte Mann, der mit seinen Nerven bereits ziemlich am Ende ist, eine Küchenwaage ins Schlafzimmer, wo sich der Schmuck und die Uhren befinden. Dort wiegt der Großvater den "Gold"-Schmuck ab; die Etuis, in denen sich Schmuck und Uhren seit Jahrzehnten befunden haben, wirft er in seiner Hektik auf das Bett. Das alles dauert seine Zeit.
Über zwei Stunden – genau gesagt zwei Stunden und drei Minuten, wie später dem Protokoll der Fritzbox zu entnehmen ist – hält der Täter sein Opfer am Telefon insgesamt hin. Ohne eine einzige Unterbrechung geht das Telefonat! Das Opfer sagt einmal, dass es seinen Sohn anrufen wolle, um sich mit ihm abzusprechen. Doch der angebliche Polizist verbietet ihm das, weil er den Fall dann nicht mehr rechtzeitig vor Dienstschluss abschließen könne und das Kind dann in Haft bleiben müsse. Da der angebliche Polizist durchgehend mit seinem Opfer spricht, kann dieser mit seinem Handy, das griffbereit in der Wohnung liegt, nicht seinen Sohn anrufen.
Betrüger diktiert zwei Quittungszettel
Dann hat der alte Mann endlich alles abgewogen: Der Großvater gibt das ermittelte Gewicht telefonisch durch. Der angebliche Polizist zeigt sich zufrieden: Das würde für die Kaution reichen. Er würde einen Kollegen als Kurier vorbeischicken, der den Schmuck übernehmen werde. Natürlich gegen Quittung, Ordnung muss bei der Polizei ja sein. Der Großvater solle sich jetzt an einen Tisch setzen und das Aktenzeichen notieren, dass ihm der angebliche Beamte diktiert. Außerdem soll der Großvater zwei Quittungszettel handschriftlich aufsetzen. Diese sollen sowohl der Großvater als auch der verantwortliche Polizist unterschreiben und der Großvater würde dann eine der beiden Quittungen erhalten.
Der Anrufer weist den alten Mann aber dringend dazu an, den Schmuck und die Uhren keinesfalls offen dem Kurier zu übergeben. Denn dann können ja vielleicht etwas verloren gehen, so der Anrufer. Nein, der Großvater müsse die Wertsachen sicher in einen Karton verpacken und diesen zukleben.
Doch woher nun so schnell einen Karton bekommen? Verzweifelt schaut sich der Großvater in seiner Wohnung um. Er geht in die Abstellkammer und entdeckt einen noch originalverpackten Römertopf. Er packt ihn und trägt ihn schnell ins Schlafzimmer. Dort öffnet er die Verpackung, stellt den Römertopf auf den Boden und wirft den gesamten Schmuck und die Uhren in den Karton und klebt diesen mit Teslafilm zu.
Kurier mit eisernen Nerven
Währenddessen macht sich der Kurier auf den Weg – er hatte offensichtlich in relativer Nähe zum Haus des Opfers gewartet, denn er klingelt bereits nach rund zehn Minuten. Der Großvater stört sich nicht daran, dass der Kurier so schnell schon vor der Haustür steht, obwohl die Polizeiinspektion, von der der Beamte angeblich anruft, rund 30 Auto- Minuten entfernt ist.
Der Kurier klingelte dreimal. Das reicht, um die beiden großen Hunde, die sich unter der Wohnung des Großvaters bei einem im Erdgeschoss lebenden Pärchen befinden, aufzuschrecken. Die Hunde stürmen zur Wohnungstür und bellen lautstark. Doch das schreckt den Kurier nicht ab, als der Großvater elektrisch die Haustür öffnet: Der Kurier geht an der Wohnung mit den tobenden Hunden vorbei in den ersten Stock, wo der Großvater wohnt. Obendrein hat eine weitere Mitbewohnerin des Hauses in der Kellerwohnung gerade Besuch, das Haus ist also voller Menschen, als der Kurier den Großvater aufsucht, um die Beute abzuholen. Für diesen "Job" muss man offensichtlich Nerven wie Drahtseile haben...
Polizei-Kurier spricht kaum Deutsch
Der Großvater öffnet jetzt seine Wohnungstür und lässt den unbekannten Mann sogar etwas in die Wohnung. Ununterbrochen geht derweil das Telefonat weiter, der angebliche Beamte am Telefon beschäftigt den alten Mann so sehr, dass dieser gar nicht bemerkt, dass der Kurier fast kein Wort sagt und sich auch nicht ausweist. Die wenigen Brocken Deutsch, die der Kurier sagt, lassen diesen aber als Osteuropäer erkennen – zumindest sagt das der Großvater später den ermittelnden Beamten. Der Kurier nimmt die Römertopfverpackung mit dem Schmuck und den Uhren, greift nach den beiden Quittungszetteln, die ihm der Großvater hinhält und verschwindet so schnell, wie er gekommen ist. Der angebliche Beamte am Telefon sagt dem Großvater noch, dass der Kurier in wenigen Minuten mit einer unterschriebenen Quittung für die in Verwahrung genommenen Gegenstände zurückkommen würde. So lange soll der Großvater bitte warten. Dann verabschiedet sich der Beamte am Telefon. Und der Großvater wartet auf die Rückkehr des Kuriers ...
Nachdem der Kurier nach rund zehn Minuten noch immer nicht zurück ist, wird der Großvater nervös beziehungsweise noch nervöser, als er es ohnehin schon war. Er ruft nun doch seinen Sohn an. Dieser fällt aus allen Wolken und verständigt sofort die Polizei. Als der Sohn später das Schlafzimmer betrifft, in dem der Großvater die Schätze seiner verstorbenen Frau zusammengerafft, abgewogen und schließlich verpackt hat, fällt ihm als Erstes der Römertopf auf, der immer noch am Boden steht.
Die Polizei rückt schnell mit insgesamt fünf Beamten an. Doch der Kurier ist natürlich längst über alle Berge und der Großvater kann keine wirklich brauchbare Täterbeschreibung geben. Die übrigen Bewohner des Hauses haben nichts mitbekommen. Auch das Auslesen der Fritzbox bringt keine Ergebnisse, denn der Anruf war ja anonym.
Statt Gold gibt es Blech und Plastik
Der Schmuck und die Uhren, die Erinnerung an die verstorbene Frau, dürften für immer verloren sein. Vermutlich liegen die Uhren und Teile des Schmucks längst in einer Mülltonne. Denn der golden aussehende Schmuck war nur Modeschmuck beziehungsweise teilweise Buntmetall.
Aber in keinem Fall Gold. Der finanzielle Schaden ist also überschaubar.
Die Zielgruppe/Opfergruppe der Enkeltrickbetrüger liest überwiegend wohl eher selten Nachrichten im Internet. Es ist also die Aufgabe von deren Kindern, diese zu warnen. Informieren Sie also Ihre Eltern und Großeltern von dem Enkeltrickbetrug!
Weisen Sie vor allem darauf hin: Egal, was ein Anrufer sagt, die Eltern oder Großeltern sollen immer sofort die betroffenen Verwandten anrufen. Behauptet der Anrufer also, dass es um das Enkelkind geht, dann müssen die Großeltern sofort dessen Eltern oder das Kind selbst unter der für diese gespeicherten Telefonnummer anrufen! Keinesfalls dürfen die Großeltern eine Nummer anrufen, die die Anrufer am Telefon sagen. Der gesamte Betrug funktioniert nur, wenn die Großeltern eben nicht unverzüglich die Eltern ihres Enkels anrufen. Genau deshalb versuchen die Telefonbetrüger ihre Opfer durchgehend am Telefon zu halten.
Darauf basiert der gesamte Betrug. Schärfen Sie das also Ihren Eltern oder Großeltern ein: Diese sollen immer den Anruf beenden/unterbrechen
– die Anrufer/angeblichen Polizisten können ja eine Nummer für einen etwaigen Rückruf hinterlassen – und sofort die Betroffenen anrufen.
Echt erscheinende Telefonnummer verspricht keine Sicherheit
In dem oben geschilderten Fall, der sich vor wenigen Tagen ereignete, riefen die Betrüger zwar anonym an. Doch das muss keineswegs immer so sein. Problemlos lassen sich auch gefälschte Telefonnummern auf dem Telefondisplay des Opfers anzeigen.
PC-WELT spricht mit Polizei: So gehen die Gangster vor
Die Polizei erklärte gegenüber der PC-WELT, dass die Anrufe aus regelrechten Callcentern kommen würden, die sich im Ausland befinden. Lange Zeit handelte es sich dabei um Callcenter aus der Türkei. Die Betrüger seien psychologisch sehr gut geschult und wüssten genau, wie sie ihren Opfern immer mehr Informationen entlocken, die sie dann wiederum sofort dafür benutzen, um glaubwürdig zu erscheinen. Nennt also beispielsweise das überrumpelte Opfer den Namen seines Enkelkindes, dann verwenden diesen sofort auch die Anrufer. Und der Großvater glaubt nun umso mehr, dass er mit einem echten Polizisten spricht, schließlich weiß der ja den Namen seines Enkels.
Zudem sind in diesen Callcentern genügend Personen vor Ort, um die diversen Rollen durchzuspielen. Geht es um eine Enkelin, dann spricht eine junge Frau mit den Großeltern, geht es dagegen um einen Enkel, dann springt eben ein junger Mann ein.
Der von uns interviewte Großvater bestätigte uns sogar, dass er im Hintergrund immer wieder Stimmengewirr gehört habe. Er hielt das für die Geräusche auf der Polizeiinspektion, aber tatsächlich dürften das andere Callcenteragenten gewesen sein, die ebenfalls auf Beutezug waren.
Den ersten Anruf startet übrigens kein Mensch, sondern ein Computer. Automatisch telefoniert der Computer die bekannten Telefonnummern (aus Telefonbucheinträgen, Gewinnspielteilnahmen etc.) ab. In einem Durchgang immer mehrere Nummern. Der erste Anruf, bei dem ein potenzielles Opfer abhebt, wird dann sofort an einen der geschulten Callcenter-Betrüger weitergereicht. Die anderen Anrufe dieses Durchgangs laufen dagegen ins Leere, nimmt also jemand als Zweiter so einen Anruf entgegen, dann hört diese Person nichts. Sie sollten also misstrauisch werden, wenn bei Ihnen öfter das Telefon (eventuell ohne Nummernanzeige) klingelt, Sie abnehmen und sich niemand meldet.
Übrigens sollten alte, alleinstehende Menschen nie leichtfertig die Tür öffnen, wenn angeblich die Polizei klingelt. Denn es können falsche Polizisten vor der Tür stehen. Und um deren Dienstausweise sehen zu können, müssen die alten Leute ja die Tür öffnen. Deshalb sollten diese sich immer die Nummer ihrer zuständigen Polizeidienststelle auf einem neben dem Telefon hängenden notieren und in so einem Fall dort anrufen und sich vergewissern, dass tatsächlich eine echte Streife vor der Tür steht. Alternativ wählen diese die 110, um sich abzusichern.